So gewinnen wir junge Ärztinnen und Ärzte für das Landarztleben
Die ärztliche und pflegerische Versorgung auf dem Land blutet aus. Längst nicht alle Hausärzte finden einen Nachfolger. Gleichzeitig ziehen junge Menschen in die Städte; zurück bleiben alte, multimorbide Patienten mit erhöhtem Versorgungsbedarf und häufig ohne pflegerische Hilfe aus der Familie – sei es auch nur der Transport zur Arztpraxis. Mobile Versorgungskonzepte wie Patientenbusse helfen hier nur bedingt. Immer mehr Patienten werden auf Hausbesuche angewiesen sein.
Dass wir sehenden Auges in eine Versorgungskrise auf dem Land hineinsteuern, ist mittlerweile auch vielen Politikern bewusst. Mehrere Bundesländer haben Förderprogramme und Landarztstipendien eingerichtet. Aber damit ist es nicht getan.
Finanzielles Risiko minimieren
Länder, KVen, Krankenkassen und Kommunen müssen stärker zusammenarbeiten und Praxisgründung finanziell unterstützen, Honorarzuschüsse für unterversorgte Regionen leisten, Hausbesuche und andere Leistungen adäquat bezahlen, und Schutz vor Regressen bieten. Hausärzte auf dem Land, wo der Weg zum Facharzt weit ist, sollten mehr und breiter verordnen dürfen. Es muss an vielen kleinen Rädchen gedreht werden, um das finanzielle Risiko einer Niederlassung auf dem Land zu senken.
So wirklich entschlossen handeln die Behörden und Politiker auf breiter Front noch nicht, um das Land endlich wieder attraktiver für junge Ärztinnen und Ärzte zu machen. Das ist einer der Hauptgründe, weshalb ich mich seit diesem Jahr beim NAV-Virchow-Bund als Vorsitzende der Landesgruppe Baden-Württemberg engagiere.
Ich spreche aus hausärztlicher Brille, aber ich bin mir sicher: Die grundlegenden Probleme und die notwendigen Maßnahmen betreffen alle Niedergelassenen, Haus- und Fachärzte gemeinsam. Darum ist es sinnvoll, als fachübergreifender Verband der niedergelassenen Ärzte auf die Dringlichkeit hinzuweisen.
Bereits 2011 war die damalige Sozialministerin des Landes Baden-Württemberg, Dr. Monika Stolz, in unserer Hausarztpraxis zu Gast. Ich war damals gerade mit dem zweiten Kind schwanger und noch gemeinsam mit meinem Vater im Rahmen einer BAG tätig. Nur dank meiner Familie – mein Vater in der Praxis, meine Mutter zuhause beim Nachwuchs – konnte ich mir den Traum erfüllen als Hausärztin zu arbeiten. Inzwischen ist mein Vater im Ruhestand, aus der BAG wurde eine Einzelpraxis mit angestellter Kollegin.
Dr. Stolz stellte das Landärzteprogramm der Landesregierung vor. Rund sieben Millionen Euro wollte man investieren, um mehr junge Ärztinnen und Ärzte aufs Land zu holen, unter anderem mit Anschubfinanzierungen. Besonders Frauen wollte man die Niederlassung erleichtern, schließlich sind die weiblichen Medizinstudierenden mittlerweile in der Mehrheit.
Mehr Flexibilität dank überörtlicher BAG
Junge Kollegen schreckt nicht nur das finanzielle Risiko einer Niederlassung am Land ab. Sie suchen auch gute Lebens- und Arbeitsbedingungen, oder in anderen Worten: eine optimale Work-Life-Balance.
Derzeit finden sie diese beiden Faktoren sehr häufig in MVZ. Aber MVZ werden häufig nur in den großen Städten, nahe Krankenhäusern, eröffnet. Das Land braucht also ein Gegenmodell zum MVZ: zum Beispiel eine überörtliche Berufsausübungsgemeinschaft (BAG).
In einer überörtlichen BAG könnten erfahrene Ärzte beispielsweise die Koordination, Supervision und Weiterbildung übernehmen. Dafür ließen sich sicher sogar einige Kollegen aus dem Ruhestand zurückholen. Die Niederlassungsneulinge hätten damit eine Art Mentor an der Seite, der sie durch die anstrengenden ersten Jahre begleitet.
Ein solches Modell schafft die notwendige Flexibilität gerade für Ärztinnen mit kleinen Kindern. Wird ein Arzt, oder dessen Nachwuchs, krank, könnte ein Kollege aus einer Schwesternpraxis einspringen.
Ziel sollte es aber sein, immer die gleichen Kollegen in der jeweiligen Praxis vor Ort zu halten. Die Landbevölkerung will schließlich eine Bindung zu „ihrem“ Arzt aufbauen – da wird man als Arzt schon mal beim Metzger zwischen Rinderbraten und Lyoner auf die aktuellen Blutwerte angesprochen, oder soll am Kindergartentor den Ausschlag des Geschwisterkindes betrachten. Das sind andere Ansprüche als in der Stadt.
Auch Wochenenddienste und Nachtdienste sind für Ärztinnen mit Kindern ein großes Thema und sicherlich ein wichtiger Hinderungsgrund für eine Niederlassung. Was tun, wenn man abends oder am Wochenende zu einem Notfall gerufen wird, wenn Kindergärten und Tagesstätten geschlossen sind? Nicht jeder hat wie ich eine Familie im Hintergrund, die einspringt und auch noch so viel Verständnis für den Beruf aufbringt. Je nach Höhe des Dienstaufkommens kann der Notdienst für Ärztinnen mit Kindern sehr schwierig bis unmöglich werden; vor allem in dünn besiedelten Gebieten, wo sich weniger Ärzte die Dienste teilen.
Zentralen Notfallpraxen können eine große Hilfe sein, um Dienste zu reduzieren oder sogar ganz „wegzutauschen“. Im Idealfall gibt es in der Notfallpraxis einen Sitzdienst und einen Fahrdienst, und die Ärztin im Fahrdienst wird von einem Fahrer begleitet. Als Frau geht man ungern alleine in der Nacht zu einer unbekannten Person. Nur eine von drei Ärztinnen im Bereitschaftsdienst fühlt sich sicher. Eine Begleitung wäre eine enorme Verbesserung und dringend notwendig.
Die Notdienste sind regional sehr unterschiedlich geregelt. Alles zusammenzutragen und zu analysieren, würde den Rahmen des Artikels sprengen. Ich richte meinen Blick daher auf Baden-Württemberg, wo ich praktiziere.
Für eine attraktive Work-Life-Balance am Land braucht es aber auch abseits der Praxis die entsprechende Infrastruktur: Kindertagesstätten, Schulen, Kinderbetreuung, aber auch Apotheken, Lebensmittelgeschäfte und Banken. Das sind Faktoren, die nicht nur den Ärzten selbst zugutekommen, sondern auch deren Familien – schließlich müssen die Partner und Kinder auch mit dem Leben am Land einverstanden sein.
Früh ansetzen für mehr Landärzte
Die Weichen für mehr Landärzte sollten bereits bei der Vergabe des Studienplatzes gestellt werden. Ich halte eine Landarztquote für sinnvoll. Niederlassungswillige sollten bevorzugt zum Studium zugelassen werden und mit Fördergeldern oder Stipendien unterstützt werden, wenn sie sich verpflichten, als Landarzt tätig zu sein. In Bayern passiert das bereits.
Natürlich brauchen wir insgesamt auch mehr Medizinstudenten, und hierunter mehr, die Allgemeinmedizin machen möchten. Nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts Ende letzten Jahres müssen die Universitäten gerade ihre Zulassungskriterien überarbeiten. Das ist gut so. Ein hervorragendes Abitur allein macht noch keinen guten Arzt aus. Auswahlgespräche sind sinnvoller – besonders im Zusammenhang mit Landarztstipendien.
Während des Studiums muss die Allgemeinmedizin stärker beworben werden. Wir sind Generalisten, nicht nur Überweiser, und sehen das gesamte Spektrum der menschlichen Erkrankungen. Das ist eine spannende Aufgabe. Bei guter differenzialdiagnostischer Kenntnis können wir früh wichtige Weichen stellen, wir haben also eine Schlüsselrolle bei der zukünftigen Gesundheit unserer Patienten. Diese Sichtweise gilt es zu vermitteln, dann kann sich der Medizinernachwuchs auch für das Fach begeistern.
Wir brauchen insgesamt einen breiten Ansatz, um die richtigen Menschen zu finden und ihnen das passende Angebot zu machen. Je früher im Studium die Studierenden mit niedergelassenen Kollegen in Kontakt kommen desto besser. In Praktika können sie den Praxisalltag kennenlernen. Die persönliche Erfahrung nimmt Ängste und Vorurteile und schürt die Begeisterung. Als Landarzt tätig zu sein muss Freude bereiten. Es ist schließlich kein Beruf. Es ist eine Berufung.
Ich pflichte meiner Kollegin Dr. Christiane Wessel, Vorsitzende der Landesgruppe Berlin/Brandenburg beim NAV-Virchow-Bund, bei: Wir brauchen mehr Weiterbildung im ambulanten Bereich und mehr Ärzte, die weiterbilden möchten. Warum nicht auch Kollegen im Ruhestand miteinbeziehen, die sowohl ihr medizinisches als auch ihr betriebswirtschaftliches Knowhow weitergeben möchten?
Gezielt fördern und unterstützen
Bei guter Vorbereitung und gezielter Hinführung, sowohl medizinisch als auch betriebswirtschaftlich, verliert die Selbständigkeit ihren Schrecken. Wieso übernehmen gerade Kinder von Hausärzten die Praxis? Wohl kaum, weil es so schrecklich war, was der Vater oder die Mutter berichteten. Im Gegenteil: Die Ärzte zweiter Generation haben sich schon früh mit der Thematik auseinandergesetzt und sich trotzdem, oder gerade deswegen, für die Nachfolge entschieden.
Ein starker Ärzteverband kann hier noch mehr Sicherheit geben. Junge Ärzte auf dem Land sind mit den Themen Niederlassung, Praxisgründung, Praxisführung, aber auch Kooperation und Vernetzung hervorragend beim NAV-Virchow-Bund aufgehoben. Hier bekommt man geballtes Expertenwissen in Form von Rechtsberatung, Musterverträgen, Tipps zum Praxismanagement und zur Personalführung. Das ist eine absolut hilfreiche Ergänzung zum eigenen Fachverband. Auch solche Informationsangebote gilt es bei der Zielgruppe bekannter zu machen.
Dass junge Ärzte heutzutage andere Anforderungen an ihr Umfeld stellen, bedeutet nicht, dass sie mit weniger Herzblut bei der Sache sind. Wenn sie aber aus persönlichen Gründen nicht rund um die Uhr zur Verfügung stehen können und wollen, müssen Kommunen, Länder, KVen, und Krankenkassen zusammenarbeiten. Nicht nur die Bedingungen für eine Niederlassung am Land müssen besser werden – das Land selbst muss attraktiver werden. Davon profitieren letztendlich nicht nur BAG, sondern auch Einzel- oder kleinere Gemeinschaftspraxen und Arztnetze; nicht nur Hausärzte, sondern auch Fachärzte; nicht nur der Ärztenachwuchs, sondern die gesamte Bevölkerung.